Artificial Intelligence (AI) revolutioniert die Einzelhandelsbranche – von der Art und Weise, wie Verbraucher*innen einkaufen, bis hin zu Prozessen, die bei Marken im Hintergrund ablaufen. Um dieser Transformation auf den Grund zu gehen, haben wir zwei Branchenexpert*innen interviewt: Holly Devine, Mode- und Einzelhandelsstrategin, und Matthew Gardner, Berater für Einzelhandelstechnologie. Ihre Perspektiven bieten spannende Einblicke in die Nutzung (bzw. die unzureichende Nutzung) von AI und zeigen auf, was Einzelhändler bei der Integration von AI in ihre Customer Experience-Strategie (CX-Strategie) beachten sollten.
Ihre Einzelhandelsexpert*innen: Holly Devine and Matthew Gardner
Holly Devine ist Retail and Fashion Executive Advisor bei SAP und Beraterin für die Konsumgüterbranche. Zu Ihren Aufgaben gehörte es, Unternehmen zu helfen, ihre strategischen und operativen Ziele zu erreichen und in einem anspruchsvollen Geschäftsumfeld zu bestehen. Heute kombiniert sie ihre Geschäftskompetenz mit den Möglichkeiten von SAP, um Menschen in Unternehmen dabei zu unterstützen, fundierte Entscheidungen für erfolgreiche Transformationsprozesse zu treffen.
Matthew Gardner ist Retail Executive Advisor bei SAP und verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Einzelhandelsbranche. Er arbeitete in Führungspositionen bei Unternehmen wie The Kroger Co., Office Depot und Sports Authority. Als leitender Berater arbeitet er mit Kunden aus dem Einzelhandel zusammen, um sie schneller zu Erfolgen zu führen, indem er ihnen hilft, relevante neue Fähigkeiten, Markt-Insights und Best Practices zu nutzen, um profitable Investitionsentscheidungen zu treffen.
Eine lockere Einstiegsfrage zum Aufwärmen: Welche Nutzungsart von AI gefällt Euch beim Shoppen persönlich am besten?
Holly: „Als Verbraucherin möchte ich, dass man mein Shopping-Erlebnis schneller, einfacher und zielgerichteter gestaltet. AI kann in all diesen Bereichen unterstützen. Ob Bilderkennung, intelligente Vorschläge oder personalisierte Texte – Ziel sollte es sein, Reibungsverluste zu beseitigen und ein intuitives, individuell zugeschnittenes Erlebnis zu gestalten. Diese Funktionen sind besonders wirkungsvoll im Mode- und Lifestyle-Einzelhandel, wo Personalisierung zu mehr Engagement führt.“
Matthew: „Am häufigsten nutze ich AI-generierte Zusammenfassungen von Bewertungen und Prüf-Tools von Drittanbietern. Sie geben mir schnell einen Eindruck von der Vertrauenswürdigkeit einer Marke und der allgemeinen Kund*innenwahrnehmung. Bei einzelnen Artikeln vereinfachen AI-gestützte Bewertungszusammenfassungen und Vertrauensbewertungen (Trust-Scoring) – entweder auf einer bestimmten Produktseite oder plattformübergreifend in sozialen Medien – die Bewertung und Auswahl erheblich. Tools wie diese ermöglichen es Verbraucher*innen, schneller fundierte Entscheidungen zu treffen. Sie sparen ihnen Zeit und die Mühe, Dutzende von Informationsquellen manuell auswerten zu müssen.
Produktempfehlungen sind ebenfalls eine beliebte Möglichkeit für Verbraucher*innen, AI zu nutzen. Welche Tools werden am häufigsten verwendet, wenn AI zum Suchen oder Vergleichen von Produkten eingesetzt wird?
Holly: „ChatGPT ist sicherlich der große Branchenriese, aber in meiner Familie sind wir große Fans von Claude. Es empfiehlt sich, mehrere AI-Plattformen ausprobieren, da jedes Modell einzigartige Stärken für den Produktvergleich und die Funktionsanalyse mitbringt.“
Matthew: „Normalerweise beginne ich mit Perplexity, da ich mit seinen Standardfunktionen Produkte und Kategorien schnell überprüfen kann. Mein derzeit bevorzugtes Prompt-Format lautet: ‚Vergleiche die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von [xyz] in einer Reihe von Tabellen‘, da die AI hervorragend entscheiden kann, welche Aspekte für die Präsentation am relevantesten sind.“
Matthew stellte auch einen eher technischen Ansatz vor: Er öffnete mehrere Tabs und stellte dieselbe Frage an verschiedene führende Modelle wie GPT-5 oder Claude 4.5, um deren Ergebnisse zu vergleichen. Außerdem verwies er auf den „KI-Modus“ von Google, um sich eine zweite Meinung einzuholen, sowie auf Google Gemini, um die Ergebnisse von Perplexity zu überprüfen. Dabei hob er hervor, wie verschiedene AI-Tools nacheinander eingesetzt werden können, um schneller zu aussagekräftigen Insights zu gelangen.
Inwiefern werden AI-Tools Eurer Meinung nach von Einzelhändlern noch zu wenig genutzt?
Holly: „Angst und Vertrauen sind die entscheidenden Faktoren, warum manche Einzelhändler AI nicht effektiv nutzen. Einige Marken sind ganz vorne mit dabei, andere sagen eher „auf keinen Fall“. Es hängt wirklich alles von der Marken-DNA ab: Wer möchte Vorreiter sein und wer zieht es vor, nachzuziehen? Aber in Bereichen wie Finanzen und Lieferkette wird AI keine Arbeitsplätze gefährden, sondern Menschen die Arbeit erleichtern.“
Matthew: „Wenn die Unternehmensdaten eines Einzelhändlers nicht aktuell und aus allen relevanten Quellen zugänglich sind, kann es sein, dass AI-Tools Ergebnisse liefern, die zunächst überzeugend wirken. Allerdings können sie unsere Strategien in den Bereichen prädiktive Analysen und Nachfrageprognosen in die falsche Richtung lenken. Robustes Context Engineering, nicht nur Prompt Engineering, bedeutet, genau die richtigen Elemente zusammenzubringen, damit unsere AI-Tools über alles verfügen, was sie benötigen, um aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. Auf diese Weise können Mitarbeiter*innen im Einzelhandel nicht nur einfach, sondern auch sicher Produktwissen sammeln, geeignete Ersatzprodukte finden oder kompetente Unterstützung bei ihren Aufgaben erhalten.“
Worauf sollten Einzelhändler bei der Implementierung eines AI-Tools achten?
Holly: „Ich denke, es sollte nicht bedrohlich wirken und menschlich sein. Wenn Sie mit diesen AI-Agenten sprechen, sollte das in natürlicher Sprache möglich sein. Dafür sollten Sie kein*e Entwickler*in, Programmierer*in oder Datenwissenschaftler*in sein müssen. Man möchte als Mensch wahrgenommen werden. Es sollte möglich sein, in natürlicher Sprache zu sagen: ‚Hey, ChatGPT‘ oder, im Fall von SAP, Joule, und dann z. B. zu fragen: ‚Wo sollte ich meine nächste Filiale eröffnen?‘ oder ‚Welche Stelle sollte ich als Nächstes besetzen?‘ Es sollte sich wie ein ganz normales Gespräch zwischen Menschen anfühlen.“
Holly setzt sich für natürlichsprachliche Schnittstellen ein, die den Zugriff auf AI-Insights demokratisieren und sie für Mitarbeitende ohne technischen Hintergrund im gesamten Unternehmen nutzbar machen.
Matthew: „Beginnen Sie mit realen Problemen, die Sie lösen müssen. Experimentieren Sie zunächst mit kleinen Tests und führen Sie die Lösung nur dann in größerem Umfang ein, wenn die AI aussagekräftige Ergebnisse liefert. Darüber hinaus ist es ratsam, einen standardisierten Überprüfungsprozess einzuführen, bevor neue AI-Tools zu umfangreich integriert werden.“
Dann präsentierte Matt eine umfassende Checkliste:
- Robuste Datensicherheit und Governance-Lösungen zum Schutz von First-Party-Daten
- Eine kombinierbare Architektur für zukünftige Flexibilität
- Nahtlose Integration in Ihre ERP- und CRM-und CX-Plattformen
- Geringe Latenz bei den wichtigsten Funktionen
Warum ist es Eurer Meinung nach für Einzelhändler wichtig, AI in ihre gesamte CX-Suite zu integrieren?
Holly: „AI ist immer dann am effektivsten, wenn Sie sie für alles einsetzen, was das Erlebnis Ihrer Mitarbeitenden, Partner oder Kund*innen reibungsloser gestaltet. Sorgen Sie für personalisiertere Erlebnisse und präzisere Interaktionen. Heutzutage gibt es nichts mehr, was mit dem Holzhammer erreicht werden kann. Man kann auch keine Armee von Marketinganalyst*innen beschäftigen, um Kampagnen durchzuführen. Doch wie können Sie eine Lösung wie SAP Emarsys nutzen, um Taktiken wie die Steigerung der Kaufhäufigkeit, des Bestellwerts oder der Kund*innenbindung erfolgreich umzusetzen? Außerdem sollte sich Ihre Nutzung von AI nicht nur auf Marketingaktivitäten beschränken. AI-Technologie sollte auch in den Bereichen Finanzen, Lieferkette, Logistik und Vertrieb zum Einsatz kommen. Alle Aspekte einer Marke bieten Anwendungsmöglichkeiten für AI. Und wenn Sie es nicht versuchen, lassen Sie sich tatsächlich Umsatz entgehen. Also muss man es zumindest probieren und entscheiden, was passt und was nicht. Ich komme aus einem Bereich, indem es kein Problem war, schnell zu scheitern. Probieren Sie etwas aus, und wenn es nicht funktioniert, ziehen Sie die Reißleine. Handeln Sie also nach dem „Fail Fast“-Prinzip. Warten Sie nicht!”
Matthew: „Integrierte AI ermöglicht es Einzelhändlern, umfassende Customer Journeys zu gestalten, die sich eher wie Beziehungen als wie Transaktionen anfühlen. Dabei gilt es, Ihre Insights zu Kund*innen sowohl relevant als auch zuverlässig aufzubereiten. Wenn diese Integration verantwortungsbewusst durchgeführt wird, fühlen sich Ihre Kund*innen wahrgenommen und verstanden, denn sie wissen ein nahtloses Markenerlebnis zu schätzen – von der ersten Entdeckung bis zum Wiederholungskauf. Dies ist nur möglich, wenn der Kontext an allen Touchpoints präsent bleibt und dieser Kontext konsistent und dialogorientiert auf eine Weise genutzt wird, wie es nur AI kann.“
Welche Rolle spielt AI bei der Gestaltung von personalisiertem Customer Engagement und langfristigen Loyalitätsstrategien?
Holly: „Ganz egal, ob es sich um bereits bekannte Kund*innen oder Neukund*innen einer Marke handelt – alles, was Einzelhändler tun können, um ihre Erlebnisse zu optimieren, ist von Bedeutung. Ich komme aus dem E-Commerce-Bereich, und wir haben immer wieder darüber gesprochen, wie man das stationäre Geschäft im Vergleich zum E-Commerce-Store vermarkten kann. Allein schon die Fähigkeit, Anhaltspunkte dafür zu erkennen, was individuelle Kund*innen wissen und was nicht, hilft Ihnen dabei, ihr Erlebnis zu verbessern. AI bietet Einzelhändlern tatsächlich hervorragende Möglichkeiten, das Einkaufserlebnis zu personalisieren und die Kund*innentreue zu stärken.“
Matthew: „AI hilft Einzelhändlern, die nächstbeste Maßnahme vorherzusagen – sei es ein Inhalt, den eine Person ansieht, ein Angebot, das sie erhält, oder der Zeitpunkt der Interaktion. Man muss den Kontext der jeweiligen Kund*innen erkennen und sich darauf einstellen, egal ob sie auf einem Mobilgerät, am Desktop oder im Laden unterwegs sind. Beispielsweise können wir das Abwanderungsrisiko mithilfe von Verhaltensmodellen erkennen und rechtzeitig eine Kampagne zur Kund*innenbindung starten. Dank AI können wir Kund*innenbedürfnisse mit unseren geschäftlichen Zielsetzungen in Einklang bringen, indem wir die Dringlichkeit seitens der Kund*innen sowie deren Präferenzen im Kontext von Lagerbeständen und Gewinnmargen analysieren. Das bedeutet, dass Loyalität nicht durch pauschale „20 % Rabatt”-Gutscheine gewonnen wird, sondern durch die Bereitstellung von Anreizen, die dafür sorgen, dass Kund*innen zufrieden sind und wir im Geschäft bleiben. Das ist das spannende Potenzial von AI. Es geht nicht nur um Automatisierung. AI unterstützt Einzelhändler dabei, Beziehungen aufzubauen, die tiefer und bedeutsamer sind als je zuvor.“
Fünf Erkenntnisse für den Übergang zum intelligenten Einzelhandel
Um Ihnen dabei zu helfen, diese Ideen in die Tat umzusetzen, finden Sie hier fünf wichtige Erkenntnisse, die die Chancen, Herausforderungen und Denkweisen zusammenfassen, die für den Übergang zum intelligenten Einzelhandel erforderlich sind.
- AI sollte menschliche Erlebnisse verbessern, nicht ersetzen
Beide Expert*innen betonten, dass AI nicht bedrohlich wirken und menschlich sein sollte. Bei AI geht es nicht darum, Arbeitsplätze zu ersetzen. Vielmehr ist AI ein Hilfsmittel, mit dem Geschwindigkeit und Effizienz gesteigert werden können. Einzelhändler sollten sich auf Tools konzentrieren, die eine Interaktion in natürlicher Sprache gestatten und es normalen Nutzer*innen ermöglichen, strategische Entscheidungen zu treffen, ohne dass sie über technisches Fachwissen verfügen müssen.
- Datenqualität ist entscheidend
Matt stellte das Konzept des Context Engineering vor. Dabei hob er hervor, dass die Effektivität von AI von der Qualität und Zugänglichkeit der Daten abhängt, mit denen sie gefüttert wird. Einzelhändler müssen ihre First-Party-Daten vereinheitlichen und bereinigen, um das volle AI-Potenzial in Bereichen wie Nachfrageprognosen, Personalisierung und prädiktive Analytik auszuschöpfen.
- AI wird in operativen Bereichen zu wenig genutzt
In der Einzelhandelsbranche beschränkt sich der Einsatz von AI häufig auf Marketingtools oder kund*innenseitige Tools, doch beide Expert*innen betonten das Potenzial von AI in den Bereichen Finanzen, Lieferkette, Logistik und Mitarbeiter*innenerlebnis. Diese Bereiche sind reif für Automatisierung und Optimierung, und AI kann bei ganzheitlicher Anwendung einen erheblichen ROI erzielen.
- Personalisierung fördert Kund*innentreue
AI ermöglicht es Einzelhändlern, über den Verkauf von Produkten hinauszugehen und Erlebnisse zu gestalten. Holly sagt dazu: „Verkaufen Sie mir kein einzelnes Kleidungsstück. Verkaufen Sie mir ein Outfit. Steigern Sie die Loyalität und den Anteil am Kund*innenbudget, indem Sie ergänzende Kategorien präsentieren.“
Personalisierung ist der wichtigste Grundstein für den Aufbau langfristiger Kund*innenbeziehungen, wenn Sie statt einzelner Artikel ganze Outfits empfehlen oder Treueprogramme auf individuelle Vorlieben zuschneiden möchten.
- Die Integration der gesamten CX-Suite ist von entscheidender Bedeutung
Um eine nahtlose Customer Journey bereitstellen zu können, muss AI an allen Touchpoints integriert werden, von der ersten Entdeckung bis zum Support nach dem Kauf. Getrennte Systeme führen zu uneinheitlichen Erlebnissen, während einheitliche Daten und AI-Orchestrierung eine reibungslose, personalisierte Customer Journey ermöglichen.
Matthew erklärt dazu: „Die meisten Einzelhändler kommen sich vor, als besäßen sie mehrere Persönlichkeiten. Als Kund*innen wünschen wir uns so etwas wie eine Freundschaft, bei der wir immer wahrgenommen und verstanden werden, egal wo wir der Marke als Nächstes begegnen.“
AI als Katalysator für Neuerfindungen
Holly und Matt betonten beide, dass Einzelhändler einen Experimentier- und Entdeckergeist entwickeln müssen. Ganz gleich, ob es um die Optimierung von Abläufen, die Personalisierung von Interaktionen oder die Stärkung der Loyalität geht – AI bietet beispiellose Möglichkeiten, um an jedem Touchpoint einen Mehrwert zu generieren. Einzelhändler, die sich wohlüberlegt, strategisch und ganzheitlich auf AI stützen, werden in dieser neuen Ära des Kund*innenerlebnisses erfolgreich sein.